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Oktober 2018: Scriptum

Fagos’ Erinnerung an seine Mutter bestand aus Bildern. Diese verschwammen in Rauch, wenn er sie zu fassen suchte. Rauschen, der Duft von Nadeln und Moos, das Greifen ins Licht, bis der Stamm unter der Härte der Schläge erzitterte. Ungehört verhallten die Schreie im Brüllen der Kettensägen, dem Gemetzel rotierender Stahltrommeln, besetzt mit Morgensternen. Nie vergaß Fagos die Schmerzen, das stumme Klagen auf Stapeln, interniert, das qualvolle Harren auf die Säge, auf die zweckgeheiligten Nägel, den ätzenden Leim.
Fagos freundete sich im Lager mit Nachbarn an:
»Wie heißt Du?«
»Meinst Du mich? Ich bin Populus, und wer bist du?«
»Ich bin Cinis. Und du?«
»Halt’s Maul, ich meine den da!«
»Ich heiße Fagos.«
»Verbiete du mir noch mal den Mund! Wir haben ja wohl genug Zeit für uns alle, liegen doch nur rum,« meckerte Cinis.
»Zeit, pah! Da schau rüber!«, konterte Populus. Die Maschinenbediener packten einen geschälten Stamm auf die kreischende Säge, das hohe Singen der Metallblätter verschluckte die Schreie.
»Da siehst du, was uns blüht! Von wegen Zeit.«
»Kinder!«, tönte eine tiefe Stimme, ihr werdet doch jetzt nicht streiten. Bitte etwas mehr Contenance!“ Quercu, die alte Eiche hatte gemahnt, aber der Streit schwelte weiter.
»Wir sind hier zu dienen, zu irgendwas wird es schon gut sein«, spottete der keineswegs überzeugte Populus.
»Solche Idioten wie du dienen dann eben als Kohle«, konterte Cinis.
»Wenn Toleranz als Ignoranz ausgelegt wird, nur weil jemand meint, seine Wertvorstellungen den Mitbäumen aufzubürden …«, versuchte sich Fagos einzumischen, doch Cinis unterbrach ihn barsch:
»Wo kommst du denn her?«
»Vom Stamme der Pappeln, und du?«, antwortete stattdessen Populus. »Ich bin aus dem Buchenwald«, setzte Fagos hinzu.
»Ich bin eine Linde und heiße ...«
»Dich hat niemand gefragt!«
Letztlich beruhigte die betagte Eiche Quercu die Streithammel, auch wenn Fagos nicht glauben wollte, dass sie mitnichten für die Säge auserkoren waren. Quercu erzählte aus ihrer Jugend. Die Zweibeiner hatten damals an ihrem Stamm gefeiert, der Geruch des Kräuterrauchs verirrte sich in ihr Blätterwerk, Musik pulste im Grün. Bald hörte niemand mehr der Geschichte zu, man stritt den grauen Tag ein, den grauen Tag aus.
Derweilen kitzelte eine Mausfamilie Fagos, einmal betteten die Maschinenbediener sie alle um. Sie lagerten nun an einem Ort ohne Obdach, feucht und kalt. Fagos fühlte Quercus Anwesenheit, Populus antwortete nicht mehr. Cinis unterdrückte kaum das Knirschen der Erleichterung, als man die junge Pappel abholte: keine endlosen Diskussionen mehr.
Ihre Fasern pressten Wasser hinaus angesichts von Populus’ Vorbereitungen: Eingeweicht, bis er sich auflöste. Sie setzten übel riechende Flüssigkeit zu, Maschinen prügelten auf die Masse ein, ein zäher Brei entstand, der zu einer Presse geleitet dahinkroch. Da kam die Reihe an Cinis und die Alte, auch Fangos zitterten vor Angst.
»Mach’s gut Fangos!«
»Sei tapfer, es geht schnell vorbei!«
»Habt keine Angst, wir gehen nur ein in ein neues Leben«, versuchte Quercu zu beschwichtigen. Da packte man im letzten Moment ebenso Fagos. Verzweifeltes Stöhnen, Zersetzung, so zerflossen Fagos’ Gedanken, mischten sich mit dem Bewusstseinsstamm der anderen in der Charge:
Kräuterrausch und friedlicher Tanz, Kohle, Feuer, Regen, puh kalt hier, alles ist Sinn, Wellen der Seelen, Schaukeln im Licht, Meer des Vergessens, Zellen vergehen, vergossenes Innenleben, Plasmen verschmelzen.
Druck, Beklemmung, die Decke stürzte ein, ein schmaler Spalt, Enge strömte in die Bruchstücke aus Leben, heiß, Schwitzen. Dann Luft, Fagos rief nach Cinis. Irgendwo hörte er ein Gebläse rattern, lauschte, wie eine scharfe Klinge die Luft durchschnitt. Kurz sah er das stählerne Aufblitzen, da durchzuckte ihn der Schmerz, der alles in Weiß tauchte. Stöhnend kam Fagos zu sich, orientierungslos. Er spürte die Alte in sich, aber sie antwortete nicht, egal wie laut er rief. Die Zuversicht und das Vertrauen der alten Eiche wärmten ihn. Glück strömte durch ihn, als er Cinis’ Seufzen vernahm.
»Wo sind wir?«, stöhnte sie. Fagos schaute sich um. Aufgehäuft ineinander lagen sie auf einem polierten Mahagonitisch, der jeglichen Kommunikationsversuch mit Schweigen quittierte.
»Sieht nach einem Haus aus, draußen sehe ich einen See.« Da stürmten Kinder der zweibeinigen Maschinenbediener herein: Lachten, rissen einzelne Blätter aus dem Stapel, falteten sie zu Schiffchen, die sie auf dem See aussetzten; bauten Schwalben, die durch die Luft segelten, eine verglühte im Kamin, die Gouvernante hatte ihre liebe Mühe. Cinis und Fagos rätselten, bangten. Ginge es in diesem Tempo weiter, ihre Tage wären bald gezählt.
Andermal bevölkerten uniformierte Maschinenbediener den Raum: Achtlos ritzte man mit Stiften Zeichnungen und Notizen auf Cinis Haut. Fagos entriss man Blätter und spannte sie in eine Maschine. Metallene Zeichen hämmerten auf ihn ein. Es kam der Tag, da verbrannte man Cinis restlos im Kaminfeuer.
»Halt durch!«, rauchten ihre letzten Worte herüber. Jetzt fraß die Einsamkeit an Fagos. Die nutzlosen Geschichten, die man ihm aufzwang, sinnlos hingeworfene Sätze, erbrochene Gemüter auf seiner Haut, Klagen, lamentieren.
Eines Tages, Fagos stand kurz vor dem Ende seiner Blätter, folgten plötzlich Berichte, Tabellen, Zahlen. Das Datum auf einer Seite merkte er sich als Letztes, bevor seine Bilder, seine Empfindungen sich auflösten:
Berlin, den 20. Januar 1942.

Als Fagos aus dem langen Schlummer erwachte, strahlte ihn grelles Licht an. Er lag gefangen unter einer Glasscheibe. Maschinenbedienergesichter drückten sich beinahe die Nasen platt, ihr Atem vernebelte ihm die Sicht. Es gab benachbarte Vitrinen, aber das Glas erstickte jeden Ruf der Kontaktaufnahme.

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